Ich hatte genug
1
Genug um Alice mitzuteilen, dass sie am Ende doch noch siegen würde, trotz des Verstosses, trotz der Eskapaden und der Dürre der Zeit…
Alice hatte Potenzial!
Sie stand abseits auf dem Pausenhof, der mit Gitterzaun umzäunt war.
Eine Aufsichtsperson, eine Lehrkraft, stand mit gelber Weste erhöht auf einer eingefassten Insel aus Beton, die in einem viel zu kleinen Areal eines Erdhaufens einen Baum beherbergte, der einige der Betonfließen schon gesprengt hatte und einige wellig anhob.
Zwei Jugendliche, vielleicht 14 oder 13 Jahre alt, schlenderten lässig in ihren viel zu weiten und tiefhängenden Hosen, über diesen grauen eintönigen Hof, die Hände in den Taschen vergraben und die Kapuzen ihrer Hoodies über die Augenbrauen gezogen. Ihr Auftritt und allzu lässiges Erscheinungsbild ließ in den Augen der Gelbweste, eine Witterung entstehen, die sie sofort in ein grelles „Stopp, wo wollt ihr hin?“ münden ließ, einer Neigung von ihr, aus der man, wenn man wollte, eine Obsession ableiten konnte. Der Obsession nämlich, andere zu enttarnen, aber nicht um einer Lüge oder Wahrheit willen, sondern um Bloßzustellen.
Die jungen Burschen murmelten etwas von „Gymi“ und „checken“, schielten verstohlen zu Alice rüber, die desinteressiert tat und dann aber plötzlich „So Highschool“ zu singen begann. Es war ein Code und Aufforderung sich zu verdünnisieren. Die „elende Bitch“ von Gelbweste dachte, dass es auf ihrer Autorität beruhe, dass die „beiden Opfer“ das Feld räumten und zischte: „aber mal ganz schnell weg von hier“. Die Jungs drehten ihr den Rücken zu und gingen in die entgegengesetzte Richtung zurück. Der Größere griff sich an den Allerwertesten und deutete ein Kratzen an, was von Alice konstatiert wurde.
2
SCHULE DER TOLERANZ prangte in lustigen Regenbogenlettern über dem Haupteingang des grauen Betonklotzes, in der die yellowbitch verschwand. In der Mitte des Eingangsfoyers stand ein Glaskasten, welcher erlesene Kunstarbeiten einiger „Scheiß Schüler“ (so der insgeheime Jargon der yellowbitch) zeigte, darunter auch Arbeiten von Alice.
Es waren Black Grafic Novels in Tusche oder Kohle gezeichnet, die mit wenigen Federstrichen oder Linien postapokalyptische Welten zeigten, die schockierten und zugleich einen magischen Sog von morbider Schönheit, Anmut und Eleganz verströmten.
„Kanntest du die beiden?“ (Looser…dachte the bitch, sprach es jedoch nicht aus).
„Nein, wir treffen uns nur zum Vögeln, mehrfach am Tag“, antwortete Alice und verschwand im Schattenwurf des Betonpfeilers und ging die Treppe hoch zu ihrer Klasse.
3
Hier komme ich ins Spiel. Ich war ihr Religions-und Ethiklehrer, ihr Vertrauenslehrer, ihr Klassenlehrer, ihre Vaterfigur, ihr Bruder, ihr Freund, vielleicht auch ihr Geliebter im Geiste, Teil einer Inspiration und Konspiration, die uns zu Komplizen machte, da wir beide an einer Schwelle standen, an unterschiedlichen Türen. Aber die Schwelle war da.
Mir markierte sie eine Grenze, einen Sicherheits-Zaun, eine Zone in der ich mich eingerichtet hatte, eine Hängematte, die staatlich alimentiert wurde. Die Sicherheit war zu einer Staatssicherheit mutiert, die beachtlich jeden Schritt in immer neuen Verordnungen und gewichtigen Gesetzestexten verkleinerte und einhegte, und die natürlich alle unserem Wohle und zu unserem Schutze dienten. Es wurde immer absurder.
Alice war eine Art Katalysator, die in ihrer pubertären Verweigerung und Melancholie eine andere Art von Welt zeichnete, die meiner nicht unähnlich war: einer Untergangswelt!
Dabei durfte ich zugleich Zeuge eines Genies sein, welches durch seine Kraft und sein morphogenetisches Feld, Einfluß nahm auf die Ent-Wickelung anderer Menschenwesen. Ich war für sie, für ihren Genius Geburtshelfer. Sie war der Zündstoff für mich, die Matrix zu verlassen und ins Unbekannte, Namenlose aufzubrechen.
4
Ich hatte mit dem Unterricht begonnen, als sich die Klassenzimmertür öffnete und Alice mit gesengtem Kopf hereinkam oder besser gesagt, herein schwebte. Trotz ihrer Gothic-Schwärze leuchtete sie und die Atmosphäre des Raumes änderte sich schlagartig.
Die „arabische Liga“ kicherte und scharrte mit den Füßen, sprach etwas aus, was keiner in Worten versteht aber dem Sinn nach, einem tieferen Sinn nach versteht, der durchaus eine ganz eigene schöpferische Poesie in sich trägt.
Mesut als Vertreter der „türkischen Fraktion“ nuschelte „Lan,Lan“ und klatschte sich mit Cem in die Handflächen.
Die Ukrainerinnen verdrehten die Augen oder schauten gelangweilt, Chrystyna band sich ihren Pferdeschwanz neu.
Die versprengten Deutschen schwiegen.
Ich begrüßte Alice, die alleine für sich saß und setzte den Unterricht fort, der das Thema „Krieg und Frieden in unseren Beziehungen“ trug.
Am Ende der Stunde kam Alice auf mich zu und fragte, ob ich kurz Zeit für sie hätte. Sie berichtete dann, dass sie sich beim Internationalen Comic Zeichenwettbewerb beworben hätte und zudem gerne für ein halbes Jahr nach Paris gehen würde. Ihre Mutter würde aber alles kategorisch ablehnen und sie „bashen“. Es herrsche eine Art Psychokrieg.
Die Mutter war alleinerziehend und arbeitete als Servicekraft in einer Raststätte. Nebenher ging sie noch in einer Arztpraxis putzen. Sie rauchte viel und an den wenigen freien Tagen, die man ihr zugestand, betäubte sie sich mit Alkohol. Sie war eine ausnehmend schöne und intelligente Frau, die gut reden und argumentieren konnte, dies alles aber für sich selbst nicht nutzen konnte, und ihr Leid und ihren Schmerz verdrängte oder an Alice ausließ. Sie war eine Gefangene, wie Rilkes Panther.
Sie kannte den Leiter vom dm-Markt und dieser hatte einen Ausbildungsplatz für Alice.
5
Wir verabredeten uns an einem Sonntagnachmittag in einem Café der Stadt. Alices Mutter hatte sich zurecht gemacht und wirkte zerbrechlich und schön. Sie stand auch an einer Schwelle:
Am Übergang zum Altern, obgleich sie erst Ende dreissig war.
Die Entbehrungen und der permanente Überlebensmodus hatten verfrüht Spuren in ihrem feinen Gesicht hinterlassen, das ernst, etwas verhärmt und melancholisch wirkte.
„Sie setzen sich sehr für meine Tochter ein, aber an der falschen Stelle. Anstatt ihre nutz-und brotlosen Tagträume in Kunst und Parisstipendium zu unterstützen, sollten Sie sie auf den Boden der Tatsachen lenken und sie in einem Lehrberuf bekräftigen. Das würde ihr mehr bringen!“
„Die Bilder und Texte sind aber keine Tagträume, sie sind real und von einer ganz besonderen Kraft. Sie sind beseelt, auch wenn es eine zerstörte Welt ist, die sie zeichnet. Sie hat die Fähigkeit, das Leben darzustellen, auch wenn es erloschen erscheint.“
„Nur wird sie sich davon nicht ernähren können und am Ende selber untergehen oder von Stütze abhängig sein.“
Sie nippte an dem Pharisäer, den sie sich bestellt hatte und verzog kurz das Gesicht und fragte wie ohne Zusammenhang:
„Haben Sie Kinder?“
Ich verneinte durch Kopfschütteln und versuchte schnell die fühlbar brenzlige Situation zu wechseln, indem ich sagte:
„Alice hat das Zeug zu einer wahren und erfolgreichen Künstlerin, die damit einmal mehr Geld verdienen wird als wir beide zusammen.“
„Es gibt viele begnadete Künstler, die brotlos bleiben und am Ende weder Zähne haben noch was zu beißen. Hören Sie auf selbst ein Traumtänzer zu sein oder besser gesagt, hören Sie auf, Alice in dieser Hinsicht zu bestärken, Sie schaden ihr nur!“
Das Gespräch schien verfahren, die Ansichten und Einstellungen unüberbrückbar, kompromißlos.
Dennoch versuchte ich einen letzten Anlauf:
„Ok, Sie haben ein Scheißleben und wollen dass Alice ein kleines bißchen weniger Scheiße im Leben ertragen muß. Indirekt sagen Sie mir, Sie haben überhaupt keine Ahnung, weil Sie keine eigenen Kinder haben und Ihre abgefuckten pädagogischen Luftschlösser schaden ihr, weil sie abstürzen wird, weil sie nie erfolgreich sein wird. Letztlich sagen Sie das nicht mir, sondern sich selbst. Sie hassen Ihr beschissenes Leben und noch mehr sich selbst und Alice ist Teil dieser Welt, die gar nicht größer, weiter und lichter sein darf und genau diese Welt ist die Sonnenuntergangswelt in der Sie leben und Alice darin festhalten.“
Der Muskel ihres linken Augenwinkels zuckte leicht und sie rieb sich diese Stelle mit der Hand und entgegnete freundlich und gefasst:
„Niemand hat Sie ermächtigt oder eingeladen mir mein angeblich Scheißleben zu erklären. Ausserdem ist es Ihre Erklärung oder Spiegel, den Sie mir vorhalten. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag!“
Sie legte 10 € auf den Tisch und ging. Ich rief ihr nach:
„Bitte Frau Massoudi, bleiben Sie doch“, aber sie war schon im Türbogen verschwunden. Ich sah sie durch die Butzenscheiben sich draußen eine Zigarette anzünden. Wie jämmerlich ich mir vorkam, im Gegensatz zu ihr, die offensichtlich mit Stolz und Würde ihr Leben lebte.
6
Das Jahr floss seinem Ende zu und in den Nebeln dieser Zeit torkelten einige Krähen und schienen sich ebenfalls aufzulösen, nur ihr Krächzen oder Lachen war noch hörbar.
Ich hatte mit Alice gesprochen und ihr von dem Gespräch mit ihrer Mutter erzählt.
„In der Nacht nach dem Treffen hörte ich ein lautes Schluchzen und Weinen. Es kam aus dem Zimmer meiner Mutter. Ich ging zu ihr und legte mich neben sie. Es tat uns beiden gut. Ich kann mich ewig nicht mehr an eine solche Innigkeit erinnern. Seither ist sie zugänglicher, aber was das Stipendium angeht, unverändert.“
Alice biß sich ein Stück Haut oder Nagel an ihrem Daumen ab und verschränkte ihre Arme vor ihren angezogenen Beinen.
„Was meinst du mit zugänglicher?“
„Sie schaut mich manchmal länger an und fängt an zu lächeln. Etwas was ich auch schon über Jahre nicht mehr an ihr kannte. Ihre Augen und ihr Blick sind sanfter. Ausserdem will sie eine Therapie machen. Sie haben Sie echt aufgeweckt!“
„Und wie denkst du über das Stipendium, wenn du es denn gewinnst?“
„Wenn ich es gewinne, gehe ich nach Paris. Wenn ich es nicht gewinne, gehe ich auch nach Paris. Mein Vater lebt dort und nächstes Jahr werde ich 16!“
„Es könnte dadurch noch zu einigen Verwicklungen und Kämpfen kommen, rechtlicher Natur. Du bist noch nicht volljährig.“
„Ich bin ein Rabe und kann hier und dort sein!“
„Wie in deinen Bildern und Geschichten?…deswegen sind sie so lebendig, weil sie durch dich leben! Und Raben sind sehr soziale und intelligente Tiere.“
„Ja, weitaus intelligenter als die Menschen! Nur die blicken es nicht und halten sich für die Krone der Schöpfung…“
„Und hast du Kontakt mit deinem Vater?“
„Er ist einer der intelligenten Menschen, ein Raben-Vater sozusagen. Er lebt mehr im Untergrund und zieht das Verborgene dem grellen Rampenlicht vor. Das Zwielicht ist sein Metier und um auf ihre Frage zurückzukommen: ja, wir treffen uns, am liebsten im darknet.“
„Na dann seid ihr ja unter besonderer Observanz!“
„Wir haben und nutzen unsere Möglichkeiten. Wie gesagt, hier und dort!“
„Sehr kryptisch und Stoff für einen Krimi!“
„Alles legal und korrekt. Gewalt schließen wir aus!“
„Raven-Hoods, nehme ich an?“
„Erkannt, give me five!“
Und wir klatschen beide unsere Hände ab und lachten und krächzten irrsinnig.
7
Je dunkler es wird, desto mehr zeigen sich die Lichter erkenntlich und es gab gar nicht so wenige davon. Sie brachten langsam die Wendung.
Alice gewann den großen Wettbewerb. In social media war sie schon eine Ikone, nun versuchte auch der mainstream sie auf seine Art einzubetten, was nur kurze Zeit gelang. Man kaprizierte sich hier mehr auf ihren Absturz als auf den Inhalt ihrer Botschaft.
Sie landete skandalös in der Psychiatrie.
„Abgewrackt“ wie eine überregionale Tageszeitung titelte. Wegen des Skandals wurde ihr der Sieg wieder aberkannt.
Zu exzessiv hatte sie gefeiert, leider auch mit Substanzen, die ihr nicht bekamen und die sie in Gefilde ihrer selbst abtauchen ließen, die sie bislang nicht kannte und mit denen sie nicht umzugehen wußte.
Auf Station traf sie Vlad oder Vladimir, ein 17-jähriger, hochaufgeschossener französisch-deutschstämmiger Russe, der mit der „Blase der Delecks“ (den Delegitimierern) sympathisierte.
Es war ein läppisches Wortspiel, das seinem Geist entsprang und sich aus „delegitimieren“ und „lecken“ zusammensetzte. Solche Wortkreationen und sein Dauergrinsen veranlassten die Ärzte ihm die Diagnose einer Hebephrenen Schizophrenie zu verpassen. Eine Erkrankung, die auch in der modernen Ära der Behandlung mit Neuroleptika, eine infauste Prognose bereithielt und früher oder später zum Wahnsinn und kognitiven Untergang führen würde. Während der „Zeit der Bedrängnis“ war er hier häufiger Dauergast, zwangsisoliert, weil er sich nicht an staatliche Massnahmen hielt.
Er war in der Schule, einem Elite-Internat aufgefallen, weil er Mitschüler mit provokanter Verweigerung ansteckte und sich darüber hinaus als Aufklärer betätigte. Rückblickend konnte man damals schon das Paranoide in ihm erkennen. Sein Wahnsystem bestand darin, dass er behauptete, die Länder dieser Erde seien Firmen, die einer kleinen aber mächtigen und unendlich reichen Clique gehören würden, die so gut wie nie öffentlich in Erscheinung träten. Dafür aber umso mehr ihre Handlanger in Gestalt von Banken, transnationalen Konzernen, Medienhäusern, gekauften Politikern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden.
Unsere Alltagswelt würde dann in „7 konzentrischen Kreisen“ zu dem werden wie wir sie kennen:
Einer großteils smarten „ENSklaven“-Welt ( wieder so eine Wortneuschöpfung aus lateinisch „Ens“, dem Wesen und dem Sklaven. Der wesentlichste Sklave war nach Vlad der, der nichts von seinem Sklaventum ahnte!) oder „Matrix“ mit dem scheinbar abgekoppelten aber perfekt operierenden und überwachenden Epizentrum der plutokratischen Finsternis.
Ein überwältigender Sog würde von diesem Schwarzen Loch erzeugt werden, in jeden Bereich des Lebens eindringen und ihn unbarmherzig auszehren. Das Ziel würde darin bestehen, alles Licht zu verschlingen, das in dieser Zeit ausgesendet werden würde.
Er fühlte sich berufen zu warnen und weil er damals schon mathematische Formeln und Eingebungen aus dem „Hyperraum“ empfing, die ihm nahelegten, die Kommunikation und Vernetzung der Schule für eine gewisse Zeit lahmzulegen, landete er, nachdem er von der „Blase der Profaschs“ (den „Profaschisten“, die die staatlichen Massnahmen für gut hielten!) verpfiffen wurde, beim Direktor des internationalen Internats.
Beide Eltern waren höchstdringlich geladen. Die Mutter, eine Deutsch-Französin und damals noch an der Sorbonne Staatsrecht unterrichtend, kam und verstand nur Bahnhof. Sie sollte zu einem späteren Zeitpunkt ihre Lehrerlaubnis verlieren, weil sie eine provokante Vorlesung und kritischen Essay verfasste und die damalige französische Regierung damit zurecht in ein schlechtes Licht rückte.
Ihr bislang festgefügtes Weltbild über Lehr- und Meinungsfreiheit purzelte und sie sollte zum ersten Mal in ihrem Leben arbeitslos werden.
Die „Zeit des Großen Erwachens“ war nun auch bei ihr angekommen und allmählich begann sie die unbewußten kollektiven Zeichen zu deuten und zu verstehen. Sie verstand wie bei der Masse der Menschen durch mantraartiges Wiederholen und durch künstlich herbeigeführte Krisen, ein herabgedimmtes und dumpfes Bedürfnis nach billiger Unterhaltung, nach Sündenböcken und ein oberflächliches Wir-Gefühl entstand, bei gleichzeitig vorhandenem abgründigen Hass, da viele zunehmend verarmten.
Der Vater Vlads war ein bekannter russischer Pianist. Ihm wurde aus „Solidaritätsgründen“ gekündigt. Auch für ihn war es schwer, zumindest in westlichen Ländern, einen neuen künstlerischen Vertrag an einem renommierten Haus zu bekommen. Zu allem Ungemach kam auch noch die Vertragskündigung des Plattenlabels hinzu.
Aus Fürsorge und einer Mischung aus Ohnmacht, Überraschung und Unkenntnis, stimmten die Eltern damals einer Unterbringung ihres entgleisten und sonderbar gewordenen Sohnes in der Psychiatrie zu.
Der Herr Direktor des Internats verzichtete unter diesen Umständen auf eine Strafanzeige und gelobte bei Normalisierung des Gesundheitszustandes, Vlad wieder in der Solidargemeinschaft der Schule aufzunehmen.
8
„Du hast unterschiedliche Augenfarben“, bemerkte Alice gegenüber Vlad, der sie interessiert anblickte und ihr zärtlich eine Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr strich.
„Mein türkis-graues Seelenauge spiegelt die Weite der kasachischen Steppe, und mein blaues Erdenauge, das Licht und das Meer der Côte d`Azur“, sagte er wie mit göttlich ausgestatteter Autorität und Natürlichkeit.
„Erzähl´ mir von deinem Seelenauge!“
„Es durchdringt die Ebenen der Matrix, die uns zu Sklaven macht. Dein Absturz, der dich hierher gebracht hat, hat einen Riß offenbart, der den meisten verborgen bleibt.
Du hast die „graue Herrscherin“ kennengelernt bzw. Fetzen ihres grauen Mantels, die sie wie Nebel oder blinde und stumpfe Spiegel über die Wahrnehmung legt. Du nimmst dich, dein Wesen verzerrt wahr und es bringt dich vom Weg ab, es führt dich in die Irre. Manchmal streut sie auch Begehrlichkeiten auf den Weg und bedient sich gern der Medien, die in dir diese Wünsche wecken. Sie kommen dir erstrebenswert vor und nicht wenige Menschen hält sie so ihr ganzes Leben gefangen. Sie kommt als Model oder Influencerin daher, umgeben von Reichtum, Sorglosigkeit und Jugend.
In Wirklichkeit ist sie alt. Steinalt und verdorrt, zahnlos und verkrüppelt.“
„In meinem Rausch, der mir sehr real erschien, hörte ich dröhnend, ein irres und gewalttätiges Lachen. Ich sah niemanden, nur das laute und eindringende Lachen, das sich meiner bemächtigte. Ich konnte nicht mehr unterscheiden ob ich das bin oder etwas abgrund Böses von mir Besitz ergriffen hatte.“
„Es ist die Sphäre der sogenannten Asteroiden, ein Gürtel, der in unserem Sonnensystem die Ebene zwischen Mars und Jupiter kennzeichnen soll, wo alle möglichen Trümmerteile geboren und gestreut werden, die alles Leben auf unserem Planeten zerstören könnten.
In der Astralwelt entspricht sie den Archetypen, die unsere kollektiven Schleier und Wahngebilde weben, wenn wir nicht bewußt genug sind. Die „graue Herrscherin“ ist hiervon eine Manifestation. Sie ist unglaublich mächtig und ihr Herrschaftsgebiet kann sich über Völker und Nationen erstrecken. Sie kann Massenpsychosen und Kriege entfachen und selbst verborgen bleiben, geschickt und manipulativ versteckt in ihrem Grauen und ihrer Ablenkung.“
„Sie hat also von mir Besitz ergriffen?“
„Sie nutzt Schwächen und Unbewusstheiten aus. Sie ist wie ein Fluidum oder Plasma, unbeständig, aber ungeheuer effektiv und reaktionsfreudig. Sie ist ein Zwitter-oder Zwischenwesen. Weder materiell noch geistig. Deswegen wird sie von den „Dunklen“ gerne genutzt, um deren finsteren Pläne durchzusetzen. Du kannst von Glück sprechen, mit ihr Bekanntschaft gemacht zu haben. Aber die Begegnung mit ihr reicht nicht aus. Sie setzt nur Angst, Spaltung oder Widerstand frei, was wiederum als „Nahrung“ genutzt wird, um im „System“ und ewigen Kreislauf zu verharren.“
„Was kann ich tun?“
„Dir bewußt sein, dass du das alles nicht bist und brauchst! Dass du nicht besser oder schlechter bist, wenn du keinen Erfolg hast oder reich genug bist oder schön genug bist. Du bist einfach du selbst und drückst dich durch dein Wesen aus.“
„Was ist mein Wesen?“
„Unteilbares Licht!“
9
Bis hin zum Kultusministerium hatte ich versucht, mich für Alice einzusetzen. Umsonst. Der Weg war gepflastert mit moralinsauren Kommentaren und Auslegungen der Gesetzestexte, die es verunmöglichten, dass Alice das Stipendium zurückgewinnen konnte. Und dennoch blitzte am Horizont unerwartet eine hoffnungsfrohe Botschaft auf: eine recht bekannte Agentur bot Alice nach dem Schuljahr eine Praktikumsstelle an und empfahl ihr, sich parallel an der Kunsthochschule mit einer Mappe zu bewerben.
„Warum tun Sie das alles für mich?“ fragte Alice an einem dieser grauen Schulnachmittage. Seit Monaten war die Sonne hinter einer dicken grauen Wolkenschicht verborgen, die auch die Gedanken der Menschen zu verkleben schien, und das Frühjahr war amputiert fast unmerklich ins Land gehumpelt.
„Ich sehe dein Talent und dass du und dein Licht in Zukunft für andere von Bedeutung sein werden!“
„Man kann auch an überzogenen Erwartungen zerbrechen oder im besten Falle, enttäuscht werden, so wie ich Sie enttäuscht habe mit meinen Eskapaden.“
„Wir sind hier um Erfahrungen zu machen. Und die Begegnung mit Vlad und seiner Hellsichtigkeit und Feinfühligkeit, haben dir sicher weitergeholfen und deine Sicht aufs Leben erweitert.“
„Und er wird es auch weiterhin tun. Wir gehen zusammen nach Paris! Er möchte ein Buch schreiben über die „7 Schleier“ und wie sie uns abhalten zu denen zu werden, die wir sind bzw. wie wir sie nutzen und transformieren können.“
„Kann Vlad auch sehen worin ich stecke, welcher Vorhang bei mir gelüftet werden müsste?“ „Ich vermute, dass Sie das selbst schon wissen. Sie brauchen Vlad nicht wirklich!“ Und tatsächlich, Alice hatte Recht.
Der Ort und das Land in dem ich aufwuchs und dem ich viel zu verdanken hatte, waren mir zu eng geworden, zu kalt.
Der Ruf kam aus Afrika, aus Namibia, ich würde dort an einer Schule unterrichten und mein Leben neu ausrichten.
Wir alle sind Reisende in vielfältigen Gewändern. Manche davon legen wir im Laufe der Zeit ab und ersetzen sie durch andere und wir machen Erfahrungen mit anderen Reisenden, tauschen uns aus und mit der Zeit entsteht so etwas wie eine vermeintliche Kenntnis der Welt und unserem Sein. Wozu das alles?
Vielleicht um zu lernen und Freude miteinander zu teilen?
10
Wir trafen uns am Bahnhof, Alice und ich. Sie trug einen Rucksack und hatte einen Koffer dabei. Reisende strömten an uns vorbei, jeder in seinem eigenen Leben, in seiner eigenen Welt. Einige starrten wie verträumt auf die Bildschirme und die Zugankunfts- und -abfahrtstafeln. Plötzlich erklang ein Piano, ein junger Mann hatte sich davor gesetzt und verzauberte durch sein Spiel die Bahnhofshalle und löste für Augenblicke die Vereinzelung der Menschen auf. Wie durch ein unsichtbares Band schien er sie, mich und Alice eingeschlossen, miteinander zu verbinden.
Ich schloss die Augen. Mir war als wäre ich diese Musik und löste mich in jeden Winkel, jedes Herz, jeden Atemzug, jede Stimme, jedes Lachen und Weinen hin auf. Ich war im Moment und mir gewahr, einfach Bewusstsein zu sein. Ich war erfüllt und nahm meine Freude und Trauer über den Abschied wahr. Alice stieß mich an.
„Ich muß gehen!“
„Ich freue mich für dich und ich bin traurig.“
„Danke für alles und dass Sie sind wie Sie sind!“
„Danke für dein Vertrauen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.“
„Vielleicht“ sagte Alice und reichte mir einen blauen Stein und eine Rabenfeder. „Blau ist die Farbe der Sehnsucht, Klarheit und Tiefe und das Federkleid der Raben ist schwarzblau. Manchmal lugt darunter auch ein Weiß hervor, ein verdecktes Licht.“
„Ich möchte dir zum Abschied auch gerne etwas schenken“ sagte ich und überreichte ihr einen alten Kompass. Das Glas war vergilbt und teils gebrochen, aber die Nadel drehte sich noch gut.
„Er ist von meinem Großvater und er half ihm nach Hause zu finden.“
Wir umarmten uns und ich blieb stehen, bis der Zug aus dem Bahnhof gerollt war.
Für Markus
RM, 21. Dezember 2024