Nothing Else Matters

Als ich auf der Türschwelle stand, hörte ich im Hintergrund die Piano Version von Nothing Else
Matters. Ich ging weiter und fuhr mit dem Wagen durch die rabenschwarze Nacht.

Als der Wecker summte, meinte ich, wie in einem fernen Traum, die Stimme von Louis zu hören,
die noch hastig etwas zu kommentieren schien, was sich auf den Inhalt des Traums bezog, den
ich aber vergessen hatte. Nur der Satz „wir entwickeln uns“, blieb mir im Gedächtnis, und ich
wusste damit nichts anzufangen.

In der Firma begrüßte mich Lea, mein Schwarm, die von meiner Schwärmerei aber nichts wusste,
da ich Profi im Verbergen meiner Wünsche und meines Innenlebens war.
Sie hatte ihr langes, rötlich – braunes Seidenhaar zu einem Zopf geflochten und ihre kessen
Augen mit den langen Wimpern, schienen meine sorgsam aufgebauten Wehranlagen zu
durchschauen und zu unterlaufen.
„Du siehst irgendwie anders aus heute“, bemerkte sie und gab dem Gesagten mit dem gekonnten
Wölben ihrer linken Augenbraue besonderen Nachdruck, was mich erröten ließ.
„Nichts anderes ist wichtig“, stammelte ich kryptisch und suchte das Weite.
An Arbeit war nicht mehr zu denken – ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und
meldete mich ab und krank.

Lea, Louis und seine merkwürdigen Äußerungen über die Pforten der Wahrnehmung, die wir
durchschreiten können, wie Tore, die uns in unsere Vergangenheit bringen und die wir noch
einmal erleben können, gleichzeitig mit dem Wissen und der Erfahrung von heute, ihr jedoch
einen anderen Impuls geben können, der freier, vielschichtiger und freundlicher ist als das
damalige blinde Agieren…
All dies summte in meinem Kopf und Herzen, aber ich bekam beides noch nicht zusammen.

Louis war auch so eine Erscheinung, die in mein Leben trat, als ich auf dem Absprung war.
Ich wollte das Land verlassen. Mein Alltag, mein Beruf, Arbeit für Konsum, Steuern und
größtmögliche Ablenkung, kam mir immer künstlicher und nichtssagender vor. Ich fand auch
keinen Draht mehr zu Freunden und meinen Mitmenschen. Sie verwunderten mich nur noch, wie
sie blind den Zeitungen, dem Fernsehen, dem ganzen Wahnsinn folgten und irrwitzigen
Maßnahmen, Gesetzen und Floskeln glaubten und sie nachbeteten. Wirklich grotesk!
Ich war nach Frankreich unterwegs und machte Halt in den Okzitanischen Pyrenäen.
Damals hatte ich mir noch Urlaub genommen und erkundete die Region nach Möglichkeiten des
Auswanderns und möglichen Bleibens unter einem südlichen Himmel, der mir weiter und
verheißungsvoller erschien als der in meiner Heimat.
Auch mein Atmen veränderte sich hier. Öfters nahm ich tiefe Atemzüge, hielt die Luft kurz an,
atmete aus. Mehrfach tat ich das. Es kam wie eine innere Aufforderung und Notwendigkeit, aber
natürlich, organisch und fließend über und in mich.
In Mirepoix lernte ich in einem Pub, Louis kennen. Er war damals schon grau, kleidete sich aber
stets wie ein bunter Vogel. Im Gegensatz zu mir, sprach er die Dinge an, nannte sie beim Namen,
trug sein Herz auf der Zunge, was ihm Bewunderung und Ablehnung einbrachte. Er scherte sich
nicht darum.
Er war mittelgroß und zierlich, hatte ein gegerbtes Gesicht, das um die Augen viele Falten hatte.
Die Augen selbst waren dunkle Scheinwerfer, die jeglichen Schatten ausleuchteten und auflösten.
Er trat an meinen Tisch und fragte, ob er sich zu mir setzen könne. Aus Höflichkeit bot ich ihm
den Platz an.
„Was treibt dich in die Ferne, wovor flüchtest du?“, war seine zweite Frage und laut rief er der
Bedienung zu: „Habt ihr Rotwein? Dann eine Kanne, aber nur von dem Guten!“
Ich war verdutzt und sprachlos. Sah man mir an, dass ich mein altes, belangloses Leben hinter
mir lassen wollte?
„Ich mache hier Urlaub“, entgegnete ich kurz und ungewöhnlich schroff und schaute in mein
Smartphone.
„Hier macht niemand Urlaub. Hier wirst du geschmiedet und gehst durchs Feuer“.
Wie sich herausstellte, war Louis Schmied, genauer, ein Glockenschmied. Über viele Jahre hatte
er sich diese Handwerkskunst angeeignet – „intuitiv“, wie er sagte.
Es entstanden wunderbare Gebilde, die durch ihren vollen und obertonreichen Klang eine
besondere Atmosphäre der Harmonie erschaffen konnten. Jede Glocke war individuell und an
edlen Lederbändern fixiert, die man beim Gehen schwingen lassen konnte und die die Fähigkeit
– laut Louis – hätten, dass sie die Naturwesen nähren und stärken könnten, die so sehr der
Heilung bedürften.
Für mich als Grafik – und Webdesigner klang das ziemlich abgefahren. Aber als ich in dieser
ersten Begegnung in seine schelmischen und dunkelleuchtenden Augen blickte, erlebte ich zum
ersten Mal seit langem, ein inneres Bejahen und eine Stimmigkeit, die in meinem Leben fehlte.
Die Bedienung kam und brachte den Wein.
„Nur den Besten für den Besten“, sagte sie vielsagend lächelnd und Louis verneigte sich vor ihr
und führte seine Hand auf sein Herz.
„Lass uns anstößig sein, Fremder, ich ehre den Gott in dir, Namaste!“
In Gegenwart dieses Mannes verlor ich meine Scheu und erzählte ihm bis tief in die Nacht von
meinem einsamen und überflüssigen Leben. Sogar von meinen Sehnsüchten, jenseits der
Bastionen aus Unsicherheit und Schutz.
Gleichwohl erfuhr ich von ihm, dass er auf seinem Weg der Schmiedekunst und durch die Klänge
der Glocken selbst auf die Idee gekommen sei, das Schmiedewasser mit Kräutern, Heilpflanzen,
Pilzen, Metallen, Salzen und seltenen Erden anzureichern, nach Gefühl, nach inneren
Rezepturen, die er offenbart bekäme, spontan, ja, die er diktiert bekäme!
Er sei nicht der Meister, ein innerer Meister habe von ihm Besitz ergriffen und übernehme die
Führung, um zur Heilung der Welt beizutragen.
Das Wasser sei ein Informationsträger und speichere das Licht des Feuers und die Schwingungen
der Pflanzen und Stoffe. Er bereitete daraus „alchymische Mittel“, die er „kleine Helferlein“,
manchmal auch „Sakramente“ nannte und die uns an unseren Ursprung erinnern sollten.
„Du bist hier im Land der Katharer, die singend ins Feuer gingen und deren geistige Kraft hier
immer noch wirkt. Nach 700 Jahren, so prophezeiten sie, würden sie wieder erstehen, weil die
Zeitenwende eine neue Erde hervorbringen würde und bei deren Geburt sie mithelfen würden.
Du kommst also zur rechten Zeit“, sagte er augenzwinkernd.

Sowohl äußerlich als auch innerlich machte ich mich von nun an auf Reisen.
Ich besuchte Louis in Frankreich immer wieder, durfte ihm als „Gehülfe“ dienen, in seinem
Schmiedelabor.
Er schmolz Metalle, führte sie zu Legierungen zusammen, die die „Stimmen der Planeten“
beherbergen sollten. Er feilte und hämmerte, rang um den Ton, den er anstimmte und in die
Glocke hauchte. Manchmal glühte sie noch und er härtete sie in den Wassern aus Salbei,
Thymian und Rosmarin.
Manchmal stand er mitten in der Nacht auf und folgte dem Ruf und schmiedete etwas, was die
Welt verzauberte mit seinem Klang.
Und ich war nicht mehr der, der ich zu sein geglaubt hatte. Immer sinnloser kam mir meine Arbeit
vor und ich erwog zu kündigen.

Das vergangene lange Wochenende verbrachte ich bei Louis und erzählte ihm von meinem
Vorhaben und dass ich in die Gegend ziehen wolle, um durch Feuer und Wasser zu gehen.
„Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde“, zitierte er und umarmte mich.
„Hier hast du eine Phiole mit potenziertem Gestein aus der Grotte von Bethlehem und
geläutertes Schmiedewasser, ich nenne es das Herz der Katharer.
Es wird dir helfen mit dem Herzen zu denken und die Welt mit dem Herzen zu umfangen und zu
begreifen, so groß ist es mindestens“ – und er breitete seine Arme aus und beschrieb einen Kreis.
Dann führte er die Hände zum Mittelpunkt dieses Kreises, der in die Mitte seiner Brust wies,
worauf er dann gekreuzt seine Hände legte.
Er schloss die Augen und sagte:
„Nimm fünf Tropfen davon und betrachte eine Viertelstunde später eine Fotografie. Dann lass
deinen Blick weit werden, öffne dich dem, was kommt. Du wirst in die Szenerie und Begegnung
von damals eintauchen, sie ganz frisch und lebendig erleben. Du wirst wirklich in der Situation
SEIN, aber auch zugleich hier und heute verweilen. Zeit spielt keine Rolle! Du wirst hier und dort
sein und alles gleichzeitig erleben, nur erhabener und wissender, du wirst mit dem Herzen dabei
sein. Dies wird alles verändern.
Sei dir gewiss und deiner Verantwortung bewusst:
Du veränderst die Welt!“
„Und nimm die Glocke hier mit. Lass sie immer wieder erklingen, wenn dir danach ist“.
So ausgestattet, fuhr ich verwirrt und aufgewühlt durch die lange Nacht, in mein bekanntes, aber
absterbendes Leben. Ich würde mich häuten wie eine Schlange und meine alten Hüllen hinter mir
lassen.

Wozu benötigte ich eine Krankmeldung, wenn ich entschlossen war, zu kündigen?
Vielleicht war es der Anker eines alten, morschen Kahns, den ich noch vermeintlich brauchte und
an dessen dünn gewordenem Seil meine Sicherheiten hingen.
Das System steckte also noch in mir.

Auf dem Teppich verstreut hatte ich Fotografien aus meinem Leben ausgebreitet. Sie zeigten ein
Bild von mir in verschiedenen Entwicklungsphasen, zeigten meine Eltern und Großeltern und
sogar deren Eltern, die mich auf vergilbten Papierseiten seltsam steif und unlebendig anstarrten.
Meine Brüder lagen da, Aufnahmen von Freunden, Studienkollegen, von meinem Hund, von
Reisen und unglücklichen, längst verflossenen Liebesbeziehungen.
Ich ließ die Glocke ertönen und mir wurde mit einem Male meine Einsamkeit bewusst. Ich fühlte
mich furchtbar allein und verlassen. Ein Schmerz und eine Leere kamen auf, wie ich sie noch nie
gefühlt hatte.
Ich nahm mehrere tiefe Atemzüge und ließ mit ihnen noch zweimal die Glocke erklingen.
Als wäre ein Damm gebrochen, überflutete mich ein ganzer Stausee an nichtgeweinten Tränen.
Ich überließ mich diesem Strom und gleitete mit ihm in den Schlaf.
Als ich aus den traumlosen Tiefen erwachte, war es früher Morgen.
Der Tag begann zu dämmern und ich hörte das Tschilpen eines Vogels. Ich entzündete eine
Kerze und betrachtete in deren Schein mein ausgebreitetes Leben. Anders als gestern empfand
ich jetzt eine seltsame Mischung aus Sympathie, Interesse und Mitgefühl. Ich war verwundert
und läutete die Glocke.
„Nimm jetzt die Medizin“, so lautete kurz, knapp und klar die innere Anweisung und so nahm ich
die fünf Tropfen aus der Phiole, wie von Louis empfohlen.
Ich ließ meinen Blick über die vielen Bilder schweifen und er blieb bei dem der Weihnachtsfeier
von vor zwei Jahren hängen.
Es zeigte unser junges, dynamisches Team. Ich stand hinter Lea mit blassem, ernstem Ausdruck.
Sie lachte ausgelassen und formte mit ihren beiden Händen ein Herz.
Walter, der Fotograf fragte:
„Was macht ein Schwabe am vierten Advent? Er sitzt mit zwei Adventskerzen vor einem Spiegel“…
und in diesem Moment entstand das Foto!
Ich sah mich hölzern und unbeholfen da stehen und gleichzeitig musste auch ich jetzt lachen. So
wie gestern die Tränen, schüttelte es mich jetzt vor Lachen. Ich bekam keine Luft mehr, so hatte
das Lachen von mir Besitz ergriffen. Ich schlug mir auf die Schenkel, prustete und hustete, es
wurde immer komischer:
„Dieser Schwabenstrolch Walter, macht solche Witze“, hörte ich mich sagen und umarmte dabei
meinen Nachbarn Peter, einen korrekten, ebenfalls etwas steifen Typen aus der Buchhaltung.
Tatsächlich hatte ich ihn in Wirklichkeit vor zwei Jahren nicht umarmt und auch nicht gelacht.
Und wenn, dann nur halbherzig und verschämt. Aber jetzt tat ich es!
Ich flüsterte Peter ins Ohr:
„Heilix Blechle, ist der Bimmele (Walter hieß mit Nachnamen Bimmele) ein Kerle!“
„Mordskerle der Bimmele“ wiederholte Peter trocken.
Ich konnte nicht mehr, litt wohl unter Sauerstoffmangel und musste blau angelaufen sein, ich
schrie vor Lachen.
Lea drehte sich um und sagte „Männerwitze“, ich prustete ihr entgegen:
„Nein, Pimmele Witze!“
„ So kenne ich dich gar nicht, Ben, das nehm ich auch, was du da getrunken hast!“
„ Ich hab noch nichts getrunken, mein Gott, es ist der Walter in mir, der zu dir spricht… Lass uns
anstößig werden, Holde und zur Bar schreiten!“
Ich wunderte mich selbst, ob meines Übermutes und hakte mich bei Lea unter.
Das Eis war gebrochen. Wie ein offenes Buch erzählte ich Lea aus meinem Leben. Ich fühlte mich
frei und sie erzählte mir aus dem ihren. Wie sich herausstellte, hatte sie französische Wurzeln und
kannte die Pyrenäenregion des Ariège sehr gut.
Sie sagte: „ Es wird die Sage erzählt, dass Esclarmonde, die Herzogin von Foix, in jungen Jahren einen
Traum gehabt haben soll, der sie wohl später zum gnostischen Wissen der Katharer geführt
haben soll.
Sie träumte von einer weißen Taube, die in ihrem Schnabel eine tiefblaue Sternhyazinthe trug
und auf einem alten Olivenbaum saß, an welchem eine siebensprossige Leiter gelehnt stand. Es
kamen drei Tempelritter auf ihren Pferden daher und der mittlere von ihnen trug einen
smaragdenen Kelch, in welchem sich eine Rose befand. Er schenkte Esclarmonde die Rose und
bat sie, die Leiter zu ersteigen, um von der Taube die Sternhyazinthe zu erlangen, die er im Kelch
dann weiter tragen wolle, und so geschah es.“
Der Zauber des Traums schien auf Lea’s Ausstrahlung übergegangen zu sein. Anmutig und
leuchtend schön saß sie da. Wir schwiegen eine Weile. Dann erzählte ich ihr von Louis und
meinem Vorhaben zu ihm in die Pyrenäen zu ziehen.
„Es wäre mir und sicher auch Louis eine Freude, wenn du uns besuchen kämst“, sagte ich feierlich
in diesen innigen Moment der Begegnung hinein.
Jetzt löste Lea durch einen ironischen Seitenhieb den elegischen Augenblick wieder auf und
sagte:
„Bei so zusammengeschmiedeten Männerbünden hat eine Frau nichts zu suchen“.
„Irgendeine Frau hat hier wirklich nichts zu suchen, aber du?“, fragte ich und schaute ihr offen in
die Augen.
„Darauf einen vin rouge und dann tanzen wir!“ entgegnete Lea…

War ich in einen Traum geglitten? Wer führte Regie? War ich das?
Ich erwachte jedenfalls wieder im Wohnzimmer auf dem Teppich liegend, umgeben von den
vertrauten und teils fremdgewordenen Fotografien.
Ich ergriff das Foto der Weihnachtsfeier. Alles unverändert darauf. Lea lachend, die Herzgeste
machend, ich dünn und armselig im Hintergrund.
Und doch hatte sich etwas verändert. Neben der statischen, eingefrorenen Zeit, schien es etwas
kreisförmiges, dynamisches zu geben, etwas sehr feines, das wie ein belebendes Band alles
miteinschließt und sein lässt, wie die Sonne mit ihrem Licht und ihrer Wärme.
In diesem Moment summte mein Smartphone. Es war Lea.
„Kommst du wieder?“
„Nein“ war meine Antwort.
„Dacht‘ ich mir. Wann brichst du auf?“
„Morgen!“
„Dann wünsch ich dir eine gute Reise und gutes Ziehen, du Zugvogel“, sagte sie.
„Kommst du uns besuchen?“
„Ja, aber ich muss noch einiges regeln“…“Wir entwickeln uns – und hier machte Lea eine kurze
Pause – zueinander!“

RM 06. Oktober 2024